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Freizeit Das NEON Musiktribunal #3

Freizeit: Das NEON Musiktribunal #3
Helmut Mauró – Klassikkritiker der Süddeutschen Zeitung

Es ist natürlich einfach, sich beim Musik hören (und kritisieren) auf die Sachen zu konzentrieren, die man eh schon spannend, eh schon fresh, eh schon supertoll findet. Nur umgibt einen im Alltag ja etwas ganz anderes. Im Autoradio, im Kaufhaus-Fahrstuhl, auf der Geburtstagsparty des kleinen Bruders steht man nicht inmitten eines plätscherndern Klangbächleins aus musikalischen Preziosen, auf deren Kenntnis man sich ach was nicht alles einbildet. »Oho, ein seltenes Bootleg von Hastenichgesehen..« Nein! Man steht bis zum Hals im Mainstream. Und der ist manchmal klebrig oder miefig, aber: Er hat die Kraft des breiten Stroms. Und wenn man mal die Hand reinhält, findet man auch Interessantes.

In der neuen Musikkolumne kommen deshalb ab jetzt immer in der ersten Woche des Monats die Top Drei der deutschen Singlecharts auf den Horchstand. Es lauschen:

Patrick Morgan – Programmdirektor des Radiosenders bigFM
Lars Gaede – Musikredakteur von NEON

David Guetta feat. S. Martin – Dangerous

Tja, da lacht der David Guetta: The longer, the better! Der Track ist immer noch die Nummer Eins der deutschen Single Charts. Texte dazu: In der letzten Kolumne.

Kwabs – Walk

Patrick Morgan Nice Groove, schöne Melodie und tolle Stimme. Der hypnotische Beat animiert zum Kopfnicken, obwohl Kwabea Sarkodee Adjepong alias Kwabs untypisch gänzlich auf Sprechgesang verzichtet. Um wieder runterzukommen, geht der gebürtige Brite spazieren. Das Lied ist wie eine leckere Tasse Lu Shan Wu Grüntee – frischer, zarter Geschmack – nach einem stressigen Arbeitstag bekomme ich nicht genug davon. Die Musik kann abhängig machen. Ein großartiger Titel, aber das dazugehörige Video kann ich mir nicht ansehen. Das Gehampel von Kwabs passt nicht zur Musik, aber darum geht es ja hier nicht, hier zählt nur die Musik. In seiner Wahlheimat, UK , ist er nur auf Platz 71 in den Charts gelandet. Da können die Deutschen nicht nur besser kicken, sondern haben auch den besseren Musikgeschmack.

Lars Gaede Kwabs wieder mal so jemand, den man gerne schütteln würde und sagen: Mann, Junge! Du hast eine Meeegastimme! Warum tust du dir das an? Warum der Bombastbeat? Die riesigen Halleffekte auf den Vocals? Warum das alberne Quietsche-Scratching und ein »Klavier«, das klein und nach Plastik klingt, als käme es aus dem Kaugummiautomaten. Man rauft sich die Harre, schaut auf die Chartsplatzierung und dann fällt es einem wieder ein: Ach ja! Verdammt. Deswegen. Mein alter Handballlehrer würde dazu wohl sagen: Wer trifft, hat recht.

Helmut Mauró Musikalisch ist Kwabs »Walk« eher kalte Küche, dafür tobt der Sprachwitz: »If I jump once, then I never think twice.« Wenn man ihn denn rein akustisch versteht, den mit breitem Klangpinsel übermalten Nuscheltext. Der Refrain endet mit dem Zweizeiler: Cause if I don’t walk, I can’t even sit around / And I’ll be falling all the way down. Heißt übersetzt ungefähr: Denn wenn ich nicht gehe, kann ich nicht einmal herumsitzen – und dann falle ich in die Hölle der Dumpfbackenpoptexter. Und dort ist es heiß und fettig und jetzt schon ziemlich überfüllt.

James Newton Howard (feat. J. Lawrence) – The Hanging Tree

Patrick Morgan »Who the f*ck is James Newton Howard?« – habt ihr euch doch sicherlich gefragt. Ich behaupte mal, dass mindestens 90% der Menschheit schon mal mit einem Werk von ihm in Berührung gekommen ist. James Newton Howard macht Filmmusik: Pretty Woman, Falling Down, After Earth usw. Im Film retten Schauspieler nicht nur die Welt, sondern dürfen auch singen. Können sie das eigentlich? Naja, Jennifer Lawernce versucht es und hat zumindest in den Verkaufscharts damit Erfolg. Sie klingt ein bisschen wie Lana Del Ray, kann aber nicht mithalten. Im Kontext des Films ist es irgendwie stimmig, aber sonst haut mich der Song weniger vom Hocker. Es dauert viel zu lang bis etwas passiert. Erst nur Stimme, dann kommen langsam Streicher und am Ende irgendwann der Chor. Ohne den Film »Die Tribute von Panem – Mockingjay Teil 1« würden wir nicht über den Song sprechen.

Lars Gaede Seien wir ehrlich: Filmmusik ohne den dazugehörigen Film anzuhören ist eine eher bescheuerte Idee. Gute Filmmusik dient als emotionaler Verstärker bewegter Bilder. So gut sie in Filmen als akustischer Trigger für Suspense, Grusel, Tränen funktionieren mag, ohne Bilder wirkt sie meist fad wie ein Musikbett, in dem niemand liegt. Es gibt natürlich diese großen, sensationellen Ausnahmen: Morricone, der Western-Musik gemacht hat, die spannender ist, als jedes Pistolen-Duell. (Und Horrorfilmmusik, zu der man tanzen kann!) Oder der Filmmusikübergott Hans Zimmer, der es zum Beispiel mit der Musik zu Interstellar schafft, einen auch ohne Spaceship vor der Nase zum Schweben zu bringen. The Hanging Tree ist keine solche Ausnahme. Du aber schon, Jennifer! Wirklich!

Helmut Mauró Wie stellt man in einem historisch verbrämten Science Fiction das Fremde dar, das Interessante, aber auch bedrohlich Abstoßende? Man kreiert einen Mittelalter-Instrumentalsound mit vibratofrei gestrichener Gambe und so Sachen. Diesmal plus Mädchenstimme, sanft aufgerauht, dünn und unberührt, gleichzeitig ein bisschen kaputt, schlampenhaft. Jennifer Lawrence gibt die modrige Unschuld und stapft riesenhaft durch eine bedrohlich anwachsende Begleitsoundkulisse mit Chor und Trompeten, in einer Mischung aus gebrochenem Engelsgesang und Seemanslied – die Narben auf ihren Stimmbändern zeugen von schlimmen Abenteuern.

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