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Liebe Guck mal, Mama, was ich kann!

Liebe: Guck mal, Mama, was ich kann!
Nie war das Verhältnis zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern besser als heute. Aber führt diese Nähe zu einer neuen, endlosen Abhängigkeit?

Text: Julia Eiler | Fotos: Daniel Gebhart de Koekkoeck, Peter Rigaud, Sandra Stein, Ramon Haindl, Kathrin Spirk

Ich bin vor fünfzehn Jahren von zu Hause ausgezogen und habe seitdem in drei verschiedenen Ländern und sechs Städten gelebt. Seit neun Jahren verdiene ich mein eigenes Geld, ich habe begonnen, fürs Alter vorzusorgen, und einen Steuerberater. Mit meinen Eltern telefoniere ich alle vierzehn Tage, zwei- bis dreimal im Jahr fahre ich 476 Kilometer von Hamburg in Richtung Süden in mein Heimatdorf. Und das reicht mir auch. Ich bin eigentlich der Ansicht, dass ich ein total eigenständiges, unabhängiges Leben führe.

Nur manchmal überkommen mich Zweifel, ob ich damit falschliege. Zum Beispiel neulich, als mich meine Eltern zum allerersten Mal in Hamburg besuchten. Da kam es zum großen Kuchengabel­eklat, und ich realisierte, wie abhängig ich immer noch von der Aner­kennung durch meine Eltern bin. Die eigene Wohnung und das regelmäßige Gehalt bedeuten nichts – tief drin in mir steckt ein fünfjähriges Mädchen, das bei der ersten Fahrradfahrt ohne Stützräder so lange »Guck mal, Mama, was ich kann, guck mal, guck mal, Mama!« brüllt, bis es endlich ein Lob und einen Kuss auf die Stirn gibt.

Ich wollte meine Eltern bei ihrem Besuch natürlich nicht mit Fahrradtricks beeindrucken, sondern mit meinem erwachsenen Lebensstil. Ich bin schließlich lange genug herumvagabundiert, habe in heruntergekommenen und ungezieferverseuchten Sechser-WGs gelebt, meine Partner und Jobs gewechselt. Ich glaube zu wissen, dass meine Eltern diesen Lebensstil nur begrenzt gut fanden. Als sie in meinem Alter waren, lebten sie immer noch in ihrem Heimatort, hatten zwei Kinder im Grundschulalter und ein Haus mit Garten gebaut. Meine Mutter hat nach dem ersten Kind aufgehört, als Friseurin zu arbeiten, und wurde Hausfrau, mein Vater bekam direkt nach dem Studium einen unbefristeten Job bei einem Großkonzern, mit guter Bezahlung, Karrierechancen, Mercedes-Dienst­wagen und natürlich einer Betriebsrente – eben: klassische Gute-alte-BRD-Biografien.

Seit Kurzem aber habe ich einen festen Arbeitsvertrag, einen festen Wohnort und einen festen Partner, mit dem ich in eine total ­seriöse Altbauwohnung mit potenziellem Kinderzimmer gezogen bin. Doch dann betraten meine Eltern die Wohnung. Noch bevor mein Vater seine Jacke ausgezogen hatte, entdeckte er das Loch zwischen Wand und Boden im Flur. Und meine Mutter hatte die Torte, die ich extra gebacken hatte, noch gar nicht probiert, als sie trocken feststellte: »Kuchengabeln habt ihr ja offenbar keine.«

An diesem Punkt brach ich hysterisch in Tränen aus und beschimpfte meine Eltern: Ich könne es ihnen ja wohl nie recht machen, immer würden sie alles, was ich mit meinem Leben anfange, kritisieren, nie sei ich gut genug. Der Nachmittag endete in einem schlimmen Streit, an dessen Ende meine Mutter schließlich meinte, sie wüssten gar nicht mehr, was sie überhaupt noch sagen dürften: »Du flippst ja immer gleich aus!«

Liebe: Guck mal, Mama, was ich kann!

FAMILIENTHERAPIE (1/5): TOBI UND ANDREAS
Alter: 25/52 – Wohnort: Gumpoldskirchen/Wien – Beruf: Videojournalist/Inhaber einer Produktionsfirma


TOBI: Papa, wir leben jetzt schon seit sechs Jahren nicht mehr unter einem Dach. Aber als ich diesen Sommer in Amerika war, bist du während meiner Abwesenheit bei mir vorbeigefahren und hast mein Zimmer aufgeräumt. Das hat mich total aufgeregt. Warum machst du das?
ANDREAS: Das ist noch so drin von früher, ich kann das wohl nicht einfach so abstellen. Wenn es aufgeräumt ist, fühlt man sich nun mal wohler. Ich will doch nur, dass es dir gut geht.
TOBI: Es war nett von dir, das stimmt. Aber es nervt. Ich bin jetzt 25 und komme alleine zurecht. Trotzdem kannst du mich nicht besuchen, ohne sofort zu nörgeln, was alles aufgeräumt und repariert werden muss. Du suchst förmlich nach Dingen, die man verbessern könnte.
ANDREAS: Ich gebe dir doch nur Tipps. Mein Vater hat das bei mir auch gemacht. Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht respektieren würde. Wenn du manchmal als Kameramann oder Produktionsassistent für meine Firma arbeitest, bin ich immer zufrieden mit deiner Arbeit. Du kannst dein Handwerk wirklich sehr gut, du bist talentiert und verlässlich. Pünktlich bist du auch immer.
TOBI: Das habe ich mir übrigens angewöhnt, weil du immer so unpünktlich bist. Wenn wir drei Uhr ausmachen, kommst du um halb vier. Das hat mich schon als Kind gestört. Das ist schon komisch: 
Bei der Arbeit behandelst du mich wie einen Erwachsenen. Aber wenn du mich zu Hause besuchst, machst du erst mal mein Bett. Ich frage mich: Wirst du das auch noch machen, wenn ich fünfzig bin?
ANDREAS: Bis dahin höre ich damit auf, das verspreche ich dir!

Als sie endlich weg waren, beruhigte ich mich langsam und dachte lange über den absurden Nachmittag nach. In unserer Familie wurde nie offen über Probleme und komplexe Gefühlsgroßwetterlagen gesprochen. Irgendwann musste es deshalb auch mal krachen. Diese Unfähigkeit zur offenen Kommunikation ist übrigens auch der Grund dafür, warum ich diesen Text unter Pseudonym schreibe.

Ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die einen unbewussten Kampf um elterliche Anerkennung führt. Ein Freund von mir hängte vor Kurzem einen Zettel in sein Treppenhaus: »Liebe Nachbarn, könntet ihr bitte bis Samstag mal den Flur freiräumen? Meine Eltern kommen zu Besuch. Danke!« Und eine gute Freundin erzählte mir, dass sie angefangen hat, zu stricken – obwohl sie dazu eigentlich gar keine Lust hat. Aber sie wolle ihrer Mutter beweisen, dass sie Talent für Handarbeiten hat. Und das sind nur zwei Beispiele. Seit dem großen Kuchengabeleklat entdecke ich überall kleine Inszenierungen und Fassaden, die die Leute nur einsetzen, um von ihren Eltern ein bisschen Applaus zu bekommen.

Was ist eigentlich los mit uns jungen Erwachsenen, dass uns das Lob unserer Eltern immer noch so verdammt wichtig ist? Wir sind doch eigentlich eine Generation, die sich für wahnsinnig street-smart, weltgewandt und multimedienkompetent hält. Sind wir in Wirklichkeit vielleicht gar nicht so eigenständig, wie wir denken?

Liebe: Guck mal, Mama, was ich kann!

FAMILIENTHERAPIE (2/5): JULIA UND MARIA
Alter: 24/57 – Wohnort: Wien – Beruf: Designerin und Illustratorin/Buchhalterin


JULIA: Immer wenn ein Gewitter über die Stadt zieht, hole ich schon mein Telefon aus der Tasche, weil ich eh weiß, dass du gleich anrufst, um mir zu sagen, dass es jetzt gewittert. Das ist schon ein seltsames Verhalten.
MARIA: Ich rufe ja nicht an, wenn es ein tröpfelt, sondern nur, wenn es sich um einen echten Sturm handelt. Ich möchte eben gerne wissen, dass meine Lieben nicht irgendwo im Wald herumirren,
wenn draußen die Welt untergeht. Ist doch schön, wenn jemand sich um einen sorgt. Oder etwa nicht? Wahrscheinlich ist dir deine alte Mutter peinlich, wenn du den Anruf in Gesellschaft erhältst.
JULIA: Na ja, ehrlich gesagt gibt es sogar ein paar Freunde, die auf die Gewitterwarnung fast ein wenig neidisch sind. Die einzige Sache, vor der du dich außer Blitzschlag noch zu fürchten scheinst, ist, dass ich vor einer Reise meinen Pass vergesse. Immer wenn ich am Flug­hafen stehe, rufst du an und fragst, ob ich den Reisepass mithabe. Dir ist schon klar, dass es dann in jedem Fall zu spät wäre?
MARIA: Ich versuche mir jedes Mal diesen Anruf zu verkneifen, denke, sie ist alt genug. Aber das Thema beschäftigt mich derartig, dass ich irgendwann doch anrufen muss – aber nicht, weil ich an dir zweifle, sondern um mich selbst zu beruhigen. Deine Schwester hat mal ihren Pass vergessen, seitdem denke ich immer: Ach, wenn das der Julia jetzt auch passiert! Ich will dich schützen. Und überhaupt: Wenn ich mich länger nicht melde, rufst du doch sofort bei mir an und fragst, warum ich nichts von mir hören lasse!

Ich rufe die amerikanische Soziologin Ruth Nemzoff an, um mir erklären zu lassen, welche tieferen Konflikte hinter dem Kuchengabel­eklat liegen. Denn eigentlich bringt mich eine unvollständige Küchenausstattung nicht so aus dem Takt. Als ich ihr die Szene be­schreibe, lacht sie und sagt: »Das ist so typisch.« Nemzoff hat selbst vier Kinder und forscht seit Langem über die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern. Sie hat auch einen Ratgeber geschrieben, in dem sie erklärt, wie Eltern es schaffen, das Leben ihrer erwachsenen Kinder, das voller scheinbarer Fehlentscheidungen steckt, zu tolerieren und Kritik so zu verpacken, dass nicht jedes Mal ein tränenreiches Drama folgt. Ein Buch, das meine Eltern leider nicht gelesen haben.

Andererseits, erklärt Nemzoff, »hören Kinder alle Dinge, die ihre Eltern sagen, wie über eine Dolby-Surround-Anlage«. Das könne gerade bei erwachsenen Kindern zu Problemen führen, weil diese sich einbildeten, feinste Nuancen rauszuhören, und deshalb beleidigt seien. Moment mal, protestiere ich – Einbildung? Die Kuchengabelkritik meiner Mutter war doch deutlich. Nemzoff lacht, wenn sie mir gegenübersäße, würde sie mir wohl die Hand tätscheln. »Ihre Mutter wollte nur sagen: ›Du hast ja gar keine Kuchengabeln, ich kann dir nächstes Mal gerne welche mitbringen.‹ Aber Sie fühlen sich kritisiert, werden deshalb trotzig und werfen Ihrer Mutter vor, dass sie Sie und Ihr Leben einfach nicht versteht.«

Meine Mutter kümmert sich tatsächlich sehr gern um ihre Kinder. Wenn ich an Weihnachten zu Besuch bin, besteht sie immer darauf, dass ich selbst gemachte Marmelade und mindestens eine Mettwurst vom Dorfmetzger mitnehme. Das tut sie natürlich nicht, weil sie denkt, dass ich ansonsten verhungere, sondern weil sie mir etwas Gutes tun und ein Stück Heimat mitgeben will. Das ist mir zwar oft ein bisschen viel und nervt, aber vielleicht tue ich ihr ja wirklich unrecht. Nemzoff fällt ein weiterer Grund ein, warum mich die Kuchengabelkritik so getroffen hat: »Sie versuchen, mit Ihrer Mutter mitzuhalten, und möchten Ihren Haushalt ebenso gut im Griff haben.«

Ich wollte nie das Leben meiner Eltern nachleben und habe so ziemlich alles anders gemacht als sie – kann es trotzdem sein, dass ich ihnen Konkurrenz machen will? Irgendwie steckt das Idealbild, das mir meine Eltern vorgelebt haben, so tief in mir drin, dass ich das Bedürfnis habe, ihnen – und offenbar auch mir selbst – in bestimmten Bereichen etwas zu beweisen. Meinen Vater rufe ich zum Beispiel gerne an, wenn ich erfolgreich eine Lampe oder einen Wasserhahn installiert oder eine Gehaltserhöhung bekommen habe. Hinter den Detailinformationen steht das große Ganze: Ich habe mein Leben im Griff!

Liebe: Guck mal, Mama, was ich kann!

FAMILIENTHERAPIE (3/5): HAKAN, MEHMET UND NURAY
Alter: 20/45/37 – Wohnort: Münster/Viersen – Beruf: Student/Buchbinder/Hausfrau


HAKAN: Wenn ihr schlimme Nachrichten im Fernsehen seht, denkt ihr sofort, ich sei davon direkt bedroht: Wenn etwa eine neue Partydroge auftaucht oder gemeldet wird, dass Studenten vor Prüfungen zunehmend Aufputschmittel nehmen. Haltet ihr mich für so unvorsichtig?
NURAY: Als deine Eltern wollen wir dich einfach nur darauf aufmerksam machen.
MEHMET: So wie neulich, als im Fernsehen etwas über Online­banking kam. Da haben die gesagt: Wenn die Adresszeile rot ist, dann wird man gehackt und alle Konten werden geplündert.
HAKAN: Ich weiß. Du hast mir ja sofort eine SMS geschrieben. Dabei weiß ich doch, dass das Symbol in der URL-Zeile grün sein muss.
MEHMET: Du bist viel selbstständiger geworden, seit du vor einem Jahr zu Hause ausgezogen bist. Andererseits wirst du für uns immer ein kleiner Junge bleiben. Selbst meine Mutter sagt zu mir: »Zieh dir was Warmes an. Die Jacke ist zu dünn, warum hast du die gekauft?«
HAKAN: Die Angst vor Kälte liegt wohl in der Familie. Mama fragt mich ja auch immer noch, ob ich morgens auch was Warmes trinke.
NURAY: Das ist eher für mein eigenes gutes Gefühl: Wenn ich dich daran erinnert habe, kann ich mich entspannen. Im Kopf weiß ich natürlich, dass du schon zwanzig Jahre alt bist und alles selbst kannst. Aber im Herzen ist diese Information noch nicht angekommen.
MEHMET: Wir sind sehr stolz auf dich – zum Beispiel auf dein gutes Abitur. Und wir vertrauen dir, dass du keine falschen Entscheidungen triffst. Hast du bisher ja auch nicht.

Insgesamt geht es in Deutschlands Familien übrigens so kuschelig-harmonisch zu wie in der Margarinewerbung. Mehr als zwei Drittel der 15- bis 37-Jährigen geben an, eine enge Verbundenheit zu ihren Eltern zu spüren, das ergab die aktuelle »Pairfam«-Studie, für die 12 400 Menschen befragt wurden. Über achtzig Prozent der erwachsenen Kinder, die nicht mehr zu Hause wohnen, haben mindestens einmal pro Woche Kontakt zu den Eltern. »Mit ­jeder Generation bewegen sich Kinder und Eltern stärker aufeinander zu«, hat auch der Soziologe Andreas Lange festgestellt, der sich an der Hochschule Ravensburg-Weingarten mit »familiären Intergenerationenbeziehungen« befasst. Das Verhältnis zwischen jungen Erwachsenen und ihren Eltern sei deutlich entspannter als noch in den 1960ern, sagt Lange. Meine Mutter musste ihren Vater lange anbetteln, eine Ausbildung machen zu dürfen. ­Meine Eltern waren von meinem Plan, Germanistik zu studieren, zwar auch nicht begeistert, im Studium haben sie mich aber trotzdem finanziell unterstützt. Ich musste mit meinen Eltern ­keine harten Kämpfe ausfechten, nicht einmal, als ich mit 28 Jahren meine Arbeitsstelle kündigte und eine Zusatzausbildung anfing. Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir keine großen Verbote, Strafen oder Tabus ein – das Wort »nein« habe ich nicht so oft gehört.

»Früher gab es in Familien große Differenzen in ­Fragen des Lebensstils«, erklärt Lange. »In den 70er Jahren entwickelten Eltern und Kinder ­erstmals ähnliche Lebensstile – auch die Populärkultur baute eine Brücke zwischen den Generationen.« Heute gehen Kinder mit ihren Eltern gemeinsam zu Rolling-Stones- oder Fleet-Foxes-Konzerten, wandern im Urlaub gemeinsam durch China und treffen sich am Wochenende zum Sport.

Wenn man aber ein bisschen näher an die heile Oberfläche heranzoomt, erzählt Lange, »sieht man, dass auch die heutige Generation junger Erwachsener nicht alles so machen will, wie es die Eltern gemacht haben«. Das gelte besonders für die traditionellen Rollenbilder der Elterngeneration. »Junge Männer wollen als Väter präsenter sein«, sagt Lange, »sie wollen nicht so werden wie ihr eigener Vater, den sie in ihrer Kindheit kaum gesehen haben, weil er so viel gearbeitet hat.« Auch die Aufgabenverteilung im Haushalt möchten viele Kinder laut Lange anderes regeln als ihre Eltern. Diese unterschiedlichen Ansichten sorgen dann doch für einen innerfamiliären Generationenkonflikt.

Der Begriff »erwachsene Kinder«, den die Forscher vor gar nicht so langer Zeit überhaupt erst eingeführt haben, ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich – und spiegelt so den komplexen Rollenkonflikt wider, in dem wir gemeinsam mit Mama und Papa stecken. Betrachtet mich meine Mutter, sieht sie wahrscheinlich nicht nur meinen funktionierenden Haushalt (und meine ersten grauen Haare), sondern immer noch das hilflose Kleinkind, um das sie sich so viele Jahre lang gekümmert hat. Kein Wunder, dass sie manchmal daran zweifelt, dass ihr Nachwuchs sein Leben zu hundert Prozent im Griff hat – und dass sie nicht merkt, wie sehr mich die Bemerkung »Trägst du auch ein Unterhemd? Es wird Winter« irritiert und ärgert. Viele unserer ­Konflikte ­rühren daher, dass mich meine ­Eltern immer noch so behandeln, wie sie es von ­früher gewohnt sind. Ich aber denke mir: Ja, ich bin ­euer erwachsenes Kind – mit Betonung auf ERWACHSEN. Ich will das nicht.

Liebe: Guck mal, Mama, was ich kann!

FAMILIENTHERAPIE (4/5): MONJA UND FRANZ-JOSEF
Alter: 27/62 – Wohnort: in der Nähe von Koblenz – Beruf: Start-up-Gründerin/Lehrer


MONJA: Papa, wenn wir uns zum Mountainbiken treffen, fragst du immer: »Hast du eine Jacke dabei? Bei den Abfahrten wird es kalt!«
FRANZ-JOSEF: Ich komme eben meiner Fürsorgepflicht nach. Du neigst dazu, die Temperaturen zu unterschätzen und frierst dann ganz erbärmlich auf dem Rad. Als wir mal in Schweden unterwegs waren und es so schlimm geregnet hat, hast du die Jacke dankbar angenommen, die ich eingepackt hatte. Erinnerst du dich?
MONJA: So richtig ernst nimmst du mich aber nicht, oder? Immer wenn wir zusammen in der Küche stehen, sagst du: »Pass auf mit dem Messer! Das ist scharf!«
FRANZ-JOSEF: Ich habe zu oft sehen müssen, wie sich Frauen beim Kochen in den Finger schneiden. Das ist meiner Mutter oft passiert.
MONJA: Ich habe seit Jahren ein eigenes Auto. Warum fragst du mich immer, ob du mich abholen sollst, wenn ich dich besuchen will?
FRANZ-JOSEF: Es ist ja nur ein Angebot. Ich finde es interessant, dass dich diese kleinen Details so stören. Ich habe, ehrlich gesagt, noch gar nicht darüber nachgedacht, wie diese Gewohnheiten bei dir ankommen. Bei den großen Entscheidungen des Lebens hast du aber hoffentlich das Gefühl, dass ich weiß, dass du erwachsen bist – Ratschläge gebe ich nur, wenn ich gefragt werde. Die Rollen von ­Eltern und Kindern verändern sich im Lauf der Zeit. Das merke ich vor allem auf unseren gemeinsamen Reisen. Früher musste ich immer ­gucken, dass wir uns am Flughafen zurechtfinden. Das hat sich früh geändert. Schon mit achtzehn wusstest du besser, wo es langgeht.

Die jungen Erwachsenen – mit Betonung auf JUNG – sind jedoch selbst nicht frei von inneren Widersprüchen. Sie pochen zwar spätestens ab dem 18. Geburtstag auf Autonomie und Eigenständigkeit, erwarten aber auch noch nach dem Auszug viel von ihren Eltern: finanzielle Unterstützung während des Studiums oder der Ausbildung, emotionalen Trost bei Liebeskummer, Haushaltstipps bei Kochproblemen, Handwerkereinsätze bei kaputten Waschmaschinen. Und natürlich weiterhin bedingungslose Liebe und Anerkennung. Sie wollen ihr eigenes Leben leben – und sind gleichzeitig­ tödlich beleidigt, wenn Mama zu Weihnachten vergessen hat, die Lieblingsplätzchen zu backen.

Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern war früher viel schlechter – aber klarer geregelt. Die junge Generation löste die Alten irgendwann ab, übernahm das Geschäft, den Betrieb und das Steuer. Heute aber ziehen sich die Sechzigjährigen nicht mehr freiwillig auf das Altenteil zurück. »Die Eltern sind heute in mehr Lebenssegmenten wichtig. Sie haben mehr Einfluss und werden von ihren Kindern häufiger um Rat gefragt«, sagt Andreas Lange. Er erzählt von einer Studie, in der festgestellt wurde, dass ein großer Teil der jungen Erwachsenen die Eltern um Hilfe beim Abschluss einer privaten Altersvorsorge bittet. »Dabei haben gerade die Eltern auf diesem Gebiet oft am ­wenigsten Expertise – solche Themen haben sie ja gar nicht betroffen.« Trotzdem scheint die Meinung vorzuherrschen: In dieser komplizierten Welt können und wissen Mama und Papa immer noch alles am besten – zumindest, wenn es mit Geld, Verträgen und Haushalt zu tun hat (und nicht mit Internet und Computern).

Das liegt freilich nicht nur an dem freundschaftlichen Verhältnis, das sich zwischen den Generationen herausgebildet hat, sondern hat tatsächlich handfeste ökonomische Gründe. In den vergangenen Jahrzehnten sorgte das verlässliche Wirtschaftswachstum dafür, dass die Kinder fast automatisch mehr Bildung und ­Kapital anhäuften als ihre Eltern und sie dann irgendwann überflügelten. Heute glauben die wenigsten daran, dass es weiter aufwärtsgeht, die Generation der Babyboomer beherrscht Politik und Wirtschaft und hat sich einen finanziellen Wohl­stand erarbeitet, den die wenigsten der jungen Erwachsenen selbst werden erreichen können. Mehr als die Hälfte der in der »Pairfam«-Studie befragten jungen Erwachsenen bekommt regelmäßig größere Geschenke oder finanzielle Unterstützung von den Eltern. Bei mir ist es ähnlich: Meine Urlaube kann ich selbst bezahlen, aber als die Kaution für meine neue tolle Erwachsenenwohnung fällig wurde, mussten Mama und Papa mir etwas leihen. Kein Wunder, dass Eltern laut vielen Studien die familiären Beziehungen oft positiver bewerten als ihre Kinder. Sie befinden sich in einer Position der Stärke.

Liebe: Guck mal, Mama, was ich kann!

FAMILIENTHERAPIE (5/5): KAROLINE UND MARION
Alter: 29/65 – Wohnort: Hamburg – Beruf: Grundschullehrerin/Rechtsanwaltsgehilfin

KAROLINE:
Mama, kannst du mir mal erklären, warum du mir im Restaurant immer die Speisekarte vorliest? Ich bringe tagsüber ­Kindern das Lesen bei, abends bekomme ich das Menü vorgelesen. Da fühle ich mich wie im falschen Film.
MARION: Für mich ist das Wichtigste, dass es allen schmeckt. Und für dich als Vegetarierin ist es doch schwierig, etwas Leckeres zu ­finden. Ich suche deshalb in der Speisekarte nach einem tollen Gericht für dich. Wenn ich sehe, dass mein Kind nur schnödes Gemüse auf dem Teller hat, kann ich mein Schnitzel nicht genießen.
KAROLINE: Aber du behandelst mich damit wie ein Vorschulkind.
MARION: Natürlich weiß ich, dass du längst erwachsen bist und dein Leben im Griff hast. Ich bin stolz auf dich. Du hast dein Zweites Staatsexamen mit der Bestnote bestanden und bewährst dich in einem schweren Job. Das ändert aber nichts daran, dass du in der Familie für mich immer die Kleinste bleiben wirst. Vielleicht gehe ich auch behutsamer mit dir um, weil ich fürchte, dass du dir Konflikte zu sehr 
zu Herzen nimmst.
KAROLINE: Vor allem, wenn es ums Essen geht, nimmst du mich nicht ernst. An Weihnachten vergangenes Jahr habe ich Serviettenknödel gemacht – und auf einmal kochst du dazu noch Kartoffeln.
MARION: In der Küche zauberst du doch längst viel raffiniertere ­Sachen als ich. Ich hatte einfach mal wieder Angst, dass die Leute nicht satt werden. Und wenn jemandem deine Knödel nicht geschmeckt hätten, dann hätte ich sicherheitshalber noch Kartoffeln gehabt.

Auch in einer insgesamt guten, harmonischen Eltern-Kind-Beziehung ist es schwierig, die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu finden – je enger das Verhältnis zwischen Eltern und erwachsenen Kindern wird, desto schmaler und kleiner wird auch das Schlachtfeld, auf dem die Konflikte ausgetragen werden. Und Konflikte wird es immer geben. Der blutige Ödipus-Mythos ist in gewisser Weise noch aktuell – nur dass sich die Kinder heute weniger gegen sexuelle Tabus (nach Sigmund Freud) oder den strengen Kontrollanspruch seitens des Vaters (nach Erich Fromm) wehren müssen, sondern gegen die fürsorgliche Umarmung auf Lebenszeit. Um Konflikte zu vermeiden, müssen die Eltern sich bewusst machen, dass sie mit Dolby-Surround-Stimme zu ihren Kindern sprechen. Und auch die Kinder müssen Unabhängigkeit nicht nur einfordern, sondern sie sich selbst auch beweisen. Das kann bedeuten, bei der nächsten Mietkaution lieber einen kleinen Kredit aufzunehmen, als schon wieder zinsfrei bei Papa und Mama zu borgen. Es ist nicht einfach, sich unfallfrei zwischen Autonomie und Abhängigkeiten zu bewegen, und es wird auch nicht einfacher werden. Die emotionale Nabelschnur lässt sich nicht durch­trennen – und das ist ja eigentlich etwas sehr Schönes.

Ich habe übrigens das Loch im Boden, das mein Vater beanstandet hat, mittlerweile mit einer Fußleiste verdeckt. Diese Mängel, die ich vorher nicht bemerkt hatte, haben mich nach dem Besuch meiner Eltern so genervt, dass ich sie beheben musste. Ich habe sogar ein Kuchengabelset gekauft – allerdings ein sehr billiges. Beim nächsten Besuch werde ich ihnen diese Errungenschaften stolz präsentieren. Wehe, ich bekomme kein Lob dafür.

Dieser Text ist in der Ausgabe 01/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.

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