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Freizeit Das NEON-Musiktribunal #6

Freizeit: Das NEON-Musiktribunal #6
Helmut Mauró – Klassikkritiker der Süddeutschen Zeitung

Es ist natürlich einfach, sich beim Musik hören (und kritisieren) auf die Sachen zu konzentrieren, die man eh schon spannend, eh schon fresh, eh schon supertoll findet. Nur umgibt einen im Alltag ja etwas ganz anderes. Im Autoradio, im Kaufhaus-Fahrstuhl, auf der Geburtstagsparty des kleinen Bruders steht man bis zum Hals im Mainstream. Und der ist manchmal klebrig oder miefig, aber: Er hat die Kraft des breiten Stroms. Und wenn man mal die Hand reinhält, findet man auch Interessantes.

In der Musikkolumne kommen deshalb einmal im Monat die Top Drei der deutschen Singlecharts auf den Horchstand. Es lauschen:

Patrick Morgan – Programmdirektor des Radiosenders bigFM
Alard von Kittlitz – Musikredakteur von NEON

Are You With Me – Lost Frequencies

Patrick Morgan Klingt irgendwie nach Country. Das war der erste Gedanke beim Hören und der war gar nicht so verkehrt. Wozu heute noch selbst Musik schreiben? »Recycling« ist das neue Hitverfahren. Das Wiederverwerten beschert den DJs in letzter Zeit beachtliche Erfolge. Felix De Laet alias Lost Frequencies aus Belgien hat genau diese Methodik angewandt.

Step 1: Finde einen Titel, den in unseren Breitengraden keine Sau kennt. In diesem Fall: »Are You With Me« von Country-Sänger Easton Corbin aus dem Jahr 2012.
Step 2: Reduziere das Original auf die wesentlichen Teile, hier ein paar Noten der Gitarren-Melodie und die Vocalparts der ersten Strophe plus Refrain.
Step 3: Die extrahierten Teile mehrfach wiederholen, sampeln oder loopen. Ein paar Beats drunter legen und das Tempo insgesamt um ein paar Clicks anziehen und schon ist der Hit fertig.

Aus 3: 38 Minuten werden effektive 2:21 Minuten. Das ist eine Ersparnis von 77 Sekunden! Und jetzt Füße hoch, Arme hinterm Kopf verschränken und mal ganz lässig chillen. Eine kurze schöpferische Pause im Büro kann nie schaden.

Helmut Mauró Warum klingt dieser schlichte brave Song nur so traurig, warum kippt die romantische Sehnsucht gleich in eine handfeste Wochenend-Depression? Weil traurige Klänge musikalisch einfach interessanter sind und emotional ansprechender. Immer schon. Und weil man als junger Mensch weiß: traurig ist tiefgründiger als grinsen. Nur sollte der Text dann auch ein bisschen interessanter sein als: Er will in Mexiko ein paar Margaritas trinken, um Mitternacht den Straßenmusikern lauschen und dabei nicht allein sein. »Kommst du mit?« lautet der Refrain-Text. Und die Musik? Glaubt nicht daran. »Schade, dass du nicht mitkommst«, sagt der traurige Gesang und die einsame E-Gitarre. Gut, dass noch ein Freund am Schlagzeug sitzt. Sonst wär’s ja komplett zum Heulen.

Alard von Kittlitz Darf ich an dieser Stelle bitte einmal etwas sagen. Und zwar: Ich verstehe das nicht. Das Lied. Null. Die Kollegen oben sind klug und tapfer. Ihnen fällt zu diesem Lied etwas ein, was wirkliche Denkarbeit nahelegt. Ich hingegen gebe auf. Das ist ein absolutes Nicht-Lied. Es ist, mit Verlaub, so banal, dass es objektiv scheiße ist. Ich glaube, die Kollegen haben das in sehr viel diplomatischerer Art ähnlich empfunden, dass das jetzt nicht das beste Lied ist, das sie kennen, aber sie haben dafür immerhin Argumente gefunden.

Das hier ist Nichts. Und das ist ja im Grunde egal. Aber es ist auch ein Rätsel, weil das Lied die NUMMER EINS der deutschen Charts darstellt. Die Nummer Eins ist erfahrungsgemäß ein furchtbarer Ohrwurm, sie soll knallen. Sie kann auch krass nerven (»I got a girl in Paris, I got a girl in Rome« oder, Achtung, »Aserej, ja deje tejebe tude jebere sebiunouba, majabi an de bugui an de buididipi«, das war, die hießen eben auch echt so: Las Ketchup). Aber die Nummer Eins soll bitte Qualitäten haben, die sie legitim, nachvollziehbar zur Nummer Eins machen. Sie soll nicht Nichts sein. Ich finde, wenn nichts Neues nachkommt, dann sollte man irgendwas Älteres da stehen lassen, das wär besser so. »Shake it Off« oder »Chandelier«. Meinetwegen sogar fucking Omi. Aber lieber noch »Mister Boombastic«. »Are You With Me« scheißt auf das Grab von »I Will Always Love You«, weil dieser Song sich jetzt in einem Zug mit der Nummer von Whitney Houston nennen darf.

Und man braucht natürlich nichts Altes da stehen lassen. Es kommt eine Menge Neues nach. JessesMariaJosef. Nur mal so zum Beispiel.

Aber wir, hier: »Are You With Me«.

Freizeit: Das NEON-Musiktribunal #6

Diese Nummer Eins ist in gewisser Hinsicht auch einfach eine bittere Nachricht, meine Damen und Herren. Ist das die Musik, die Deutschland gern im Radio hört, bevor im Infoblock dann kommt: In Tröglitz sind Flüchtlinge nicht vor Rechtsextremen sicher? Ich befürchte: Ja. Und behaupte: Es besteht ein Zusammenhang. Die Musik ist genauso oberflächlich haltungsbefreit und nichtssagend wie die Menschen, die vor der Kamera behaupten, sie seien ganz zivil, aber schlimmer sei es schon wenn ein Deutscher erfriert als wenn das ein Ausländer tut. Sie will uns ans Leder, sie will unsere Seele fressen.

Ich schweife aber ab. Was ich sagen will: Es gibt unglaublich gute Popmusik, en masse. Sie ist nicht anstrengend, nicht fordernd, sie macht Spaß, sie ist einfach, sie ist zum Mitsingen, super gute, tolle Popmusik. Sia oder Rihanna sind sogar in den Charts, aber nicht Nummer Eins. Da steht dieser Dünnpfiff. Warum? Ich sage: Ich verstehe das nicht. Aber ich find’s wirklich nicht gut, dass das so ist.

Omi – Cheerleader (Felix Jaehn Remix)

Gratulation Omi. Der Track ist noch immer unter den Top 3. Texte dazu: In der letzten Kolumne.

Love Me Like You Do – From Fifty Shades Of Grey

Gratulation Ellie Goulding. Der Track ist noch immer unter den Top 3. Texte dazu: In der letzten Kolumne.

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