Anzeige

Liebe Der Weg ist das Spiel

Liebe: Der Weg ist das Spiel
Entscheiden, uns selbst vermarkten, uns neu orientieren – rund um die Uhr optimieren wir uns selbst und hoffen, unser Leben in den Griff zu bekommen. Weil wir jedoch so fixiert darauf sind, uns große Ziele zu setzen, haben wir das Ankommen verlernt.

Protokolle: Fiona Weber-Steinhaus | Fotos: Ryan McGinley

Ich war vierzehn Jahre alt, als mir der letzte Baustein meines Lebensplans in die Hand fiel: ein Buch, gelb-oranger Einband, 246 Seiten. Wenn Menschen über Bücher sprechen, die ihr Leben verändert haben, dann geht es oft um die Bibel, die Biografie des Dalai Lama oder um Diätratgeber. Ich aber liebte den Roman »Soloalbum« des Journalisten Benjamin von Stuckrad-Barre, weil er voll schneller, schlauer Sätze war. So wollte ich auch auf die Welt blicken und sie so präzise und witzig beschreiben können.

Bei der Lokalzeitung erklärte man mir, wie ich dieses Ziel erreichen könne. Du musst hart arbeiten, sagten die Herren dort, du brauchst Disziplin und Geduld. Der Plan klang anstrengend, aber machbar: Abi, freie Mitarbeit, Uniabschluss, Volontariat Lebenstraum erfüllt. In den folgenden sechzehn Jahren hinterfragte ich ihn nicht ein einziges Mal.

Bis zu diesem Tag im Frühjahr dieses Jahres, als ich im Jugendstiltreppenhaus einer Hamburger Immobilienverwaltung plötzlich nicht mehr weiterkomme. Es beginnt mit einem Rauschen im linken Ohr, einem Puls, so laut wie die Schützenfesttrommler, vor denen ich aus meiner Kleinstadtheimat geflohen bin. Ich setze mich auf die kühlen Marmorstufen. Mein Magen ist ein Bassin voller Treibsand, der den Rest von mir langsam nach innen zieht.

Die Hausverwalterin wollte so viel wissen: Alter? Einkommen? Familienstand? Kinder? Festanstellung? Völlig normale Fragen, die ich schon hundertmal beantwortet habe. An diesem Tag aber treffen sie mich plötzlich. Verzweifelt habe ich mit Einkommensnachweisen und Schufa-Auskünften herumgewedelt, angebliche Beweise dafür, dass ich mein Leben im Griff habe. Aber ich glaube mir selbst kein Wort der Mietvertragsabschluss als persönlicher Bilanzmoment: Ich bin dreißig Jahre alt. Vor drei Monaten ging meine letzte Beziehung in die Brüche. Meine Wohnung musste ich binnen kürzester Zeit räumen, weil ein Dachbodenausbau ansteht. Und seit ich als freie Journalistin in einer Stadt arbeite, die vor Medienarbeitern überquillt, fühle ich mich oft wie eine Hochstaplerin, wenn die Leute fragen, was ich beruflich mache: Woher soll ich wissen, dass im nächsten Monat überhaupt noch Aufträge und Honorare kommen?

Jedes Mal, wenn ich Schuhe im Netz bestelle, habe ich Angst, dass kein Geld da ist, wenn die Kreditkartenabrechnung kommt. Ich habe einen neuen Mietvertrag in der Tasche und sitze doch enttäuscht und weinend in dem Jugendstiltreppenhaus. Seit sechzehn Jahren habe ich den Plan befolgt und trotzdem nicht das bekommen, was ich wollte. Nun könnte man natürlich sagen: Luxusproblem! Und so viele Schuhe braucht sowieso kein Mensch. Aber mich interessiert: Bin ich selbst schuld, dass ich so viele meiner Ziele verfehlt habe? Bin ich zu faul, mutlos, untalentiert? Oder liegt es an anderen Menschen, dem Arbeitsmarkt, dem großen Ganzen? Und: Wenn das einfach so und völlig normal ist, wir zwar bei A loslaufen, aber nie bei B ankommen, warum machen wir dann überhaupt Pläne? Die Frage ist: Führe ich mein Leben oder führt das Leben mich?

Liebe: Der Weg ist das Spiel

»Sich anstrengen gilt als uncool«
Sally Enshu, 18, Hamburg.


Da bin ich: Abiturientin und Autorin.
Das ist der Plan: Auslandsaufenthalt, ab dem Jahr 2016 Internationale Beziehungen studieren.
Da will ich hin: Medienkarriere.

»Ich mache mir keine sorgen um die Zukunft. Aber als die Berufsberaterin sagte: ›Journalistin? Da kannst du gleich Hartz IV beantragen‹, war ich schon kurz irritiert. Als ich in der siebten Klasse war, hat ein ›Spiegel‹-Redakteur uns von seiner Arbeit erzählt. Seitdem will ich auch schreiben, am liebsten über Außenpolitik. Ich plane gern voraus: Nach einem freiwilligen sozialen Jahr in Jerusalem möchte ich in Dresden oder Erfurt internationale Beziehungen studieren. So habe ich einen Plan B neben dem Journalismus und könnte auch bei NGOs arbeiten. Jeden Abend um 20 Uhr schaue ich CNN, die Moderatorin Christiane Amanpour ist mein Vorbild. Ich lese die ›Zeit‹ und die ›Süddeutsche Zeitung‹. Mein Schrank ist vollgeklebt mit meinen Lieblingsartikeln und mit Texten, die wichtig für meine Abiprüfungen in meinem Hauptfach Politik und Wirtschaft waren. Seit einem Jahr schreibe ich bereits für verschiedene Onlineplattformen. Da habe ich auch zum ersten Mal gemerkt, dass mir die Arbeit wirklich liegt. Aber ich habe auch gemerkt, dass manche Gleichaltrige neidisch werden, wenn man ein bisschen Erfolg hat. Es gilt wohl als uncool, wenn man sich anstrengt.«

Während des Studiums war ich mir sicher, dass ich die Kontrolle habe. Und irgendwie stimmte das ja auch. Unter der Woche kümmerte ich mich um Seminare und Hausarbeiten für die Uni, an den Wochenenden saß ich in Blasorchesterkonzerten, notierte Bürgermeisterreden zu Kirmeseröffnungen und schrieb Reportagen über die Arbeit der NABU-Mitglieder in niederrheinischen Kopfweidengebieten. Ich mochte diese Arbeit. Und wenn mich die Provinzaura zwischendurch doch mal nervte, dachte ich einfach an mein Ziel: die Großstadt, die großen Magazine, ein Job, der Aufregung und Stabilität verbindet.

Diese Zielgenauigkeit führt zwar zu einem gewissen Scheuklappenblick, gibt einem aber auch das Gefühl, sein Leben im Griff zu haben und kann deshalb ein großes Glück sein. Wer sich einmal für ein Ziel entschieden hat, muss sich nicht mehr selbst hinterfragen und kann sich auf das Machen konzentrieren. Für Menschen, die nicht so genau wissen, wohin sie wollen, kann die Zielsuche dagegen schnell zur alles beherrschenden Lebensfrage werden. In keinem anderen Land beschäftigen sich junge Menschen derart intensiv mit diesem Thema. US-Wissenschaftler befragten für eine globale Studie 12 000 Menschen im Alter zwischen achtzehn und dreißig Jahren, worüber sie sich die meisten Sorgen machen: 48 Prozent der jungen Deutschen antworteten mit einer Frage: »Was mache ich mit meinem Leben?«

Liebe: Der Weg ist das Spiel

»Plötzlich die Nachricht: Du bist Papa!«
Alex, 23, Schlosser, Münsterland.


Das war der Plan: Kündigen, nach Australien reisen, mal schauen.
Da bin ich: Zurück in der Heimatstadt, Vater eines neun Monate alten Jungen.
Da will ich hin: Zufriedenheit.

»Ich lag im vergangenen September nach einem Partywochenende verkatert am Strand von Darwin, als ich diese Nachricht bekam: ›Die Magengeschwüre waren wohl ein Baby. Du bist seit drei Tagen Vater.‹ Geschrieben von der Frau, in die ich neun Monate zuvor verliebt gewesen war und mit der ich seitdem nicht gesprochen hatte. Ich war nach Australien aufgebrochen, ohne Plan, was als Nächstes kommen sollte oder wann ich zurückkommen wollte. Mit sechzehn habe ich eine Schlosserausbildung begonnen, der Job machte mir Spaß. Aber nach ein paar Jahren wollte ich den normalen Provinzlebensablauf hinter mir lassen: Lehre, Ehe, Haus, Kinder, Enkel, Tod. Ich wollte was Neues sehen. Doch nach dem Anruf war für mich klar: Ich kann nicht durch die Weltgeschichte reisen, wenn dann ein Baby ohne Vater aufwächst. Ich nahm den nächsten Flug. Zwei Tage später hielt ich meinen Sohn das erste Mal in den Armen. Der ist unglaublich klein, dachte ich. Ich bin zurück zu meiner Familie gezogen, arbeite wieder als Schlosser. Von Australien ins Kinderzimmer, das war zunächst schwierig. Jetzt habe ich eine eigene Wohnung und teile mir die Erziehungsarbeit mit der Mutter. Ich will den Meister machen, vielleicht nach Köln ziehen. Ich habe gelernt, dass man nichts genau planen kann und das ist toll. Mein Sohn ist das beste Beispiel.«

Die Frage, was und wer man sein will, kann ein starkes Aufputschmittel sein und ist oft genug die Initialzündung für technologischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Fortschritt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten und ich darf frei zwischen ihnen wählen! Wenn man sich jedoch übermäßig mit dieser Frage beschäftigt und keine Antwort findet, wird das Aufputschmittel schnell zu einem Betäubungsmittel und lähmt. Wie Dwight, der Held aus Benjamin Kunkels Roman »Unentschlossen«, der nie weiß, was er tun soll, und seine Richtungslosigkeit mit Psychopharmaka bekämpft: »Nicht selten lag ich nachts wach und fühlte mich wie ein Fetzen Soziologie, den es in den für ihn vorgesehenen Winkel der Welt geweht hatte.«

Bei der sturen Umsetzung meines Lebensplans half mir vor allem mein Vater. Solange ich mich verhielt wie er zielstrebig, gewissenhaft, fleißig , hatte ich das Gefühl, alles richtig zu machen. Ich war überzeugt davon, dass das Happy End eintritt, wenn man sich nur an die Regeln hält. Im Leben meiner Eltern lag eine Eindeutigkeit, die ich immer bewundert hatte. Auch wenn meine Freunde nicht müde wurden, mir einzureden, dass dieser Lebensentwurf bieder sei. Meine Eltern haben nie die Stadt gewechselt, nie ihren Beruf. Sie haben sich mit Anfang zwanzig kennengelernt und sind bis heute verheiratet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie glücklich sind. Gegen dieses Konzept zu rebellieren, fand ich albern und dumm.

Erst nach dem Treppenhausmoment wurde mir klar, dass ich mich auch als Versagerin fühle, weil ich einer Eindeutigkeit hinterherhetze, die es heute vielleicht gar nicht mehr gibt. Unsere Lebensziele sind ja viel weniger individuell, als wir selbst glauben. Familie, Gesellschaft und Wirtschaftslage bestimmen das Klima und den Kontext, in dem wir dann Entscheidungen treffen. Die Art und Weise, wie ein Mensch sein Leben plant, wird durch Kindheit und Jugend geprägt, glaubt auch der Sozialforscher Klaus Hurrelmann: »Wer von seinem Umfeld ernst genommen und gefördert wird, reift zu einem selbstbewussten Menschen. Und wem jeder Wunsch verweigert wird, der traut sich auch später nichts zu.«

Liebe: Der Weg ist das Spiel

»Ein Jahr abhängen war wichtig«
Florian Sump, 33, Hamburg.


Das war der Plan: Rockstar.
Da bin ich: Ex-Schlagzeuger der Band Echt, Erzieher, Mitglied der HipHop-Band Deine Freunde.
Da will ich hin: Ein guter Vater werden.

»Musik konnte ich. schule fiel mir schwer. Nicht nur wegen des Erfolgs meiner Band Echt hat es sich richtig angefühlt, in der elften Klasse die Schule zu verlassen. Mit 21, als sich die Band auflöste, hatte ich fünf Jahre durchgearbeitet, Konzerte, Pressetermine. Mein Leben war total fremdorganisiert, ich musste mich nur in den Tourbus setzen. Danach habe ich erst mal ein Jahr abgehangen, gefeiert und mich von Pizza ernährt. Das war wichtig. Die Idee, dass ich wegen des Erfolgs nie wieder arbeiten müsste, erwies sich jedoch als falsch. ich habe dann gejobbt, in der Videothek, auf dem Markt. Einen richtigen Plan, wohin es gehen sollte, hatte ich nicht. Als ich dann meinen Zivi im Kindergarten absolviert habe, fühlte ich mich wie damals im Bandproberaum: Ich wusste gleich, das kann ich. Kinder vertrauen mir einfach. Als ich die Kinder einmal bat, ihre Lieblingsmusik mitzubringen, hatten sie Seeed und Fettes Brot dabei. Das hat mich beeindruckt. Ich arbeite heute als Erzieher und Musiker. Mit der Band Deine Freunde mache ich HipHop für Kinder. Bei unseren Konzerten gehen die Kinder total ab, das ist derselbe Kick wie damals vor ausverkauften Hallen.«

In meiner Kindheit vermischten sich beide Muster: Ich wurde zwar von meinen Eltern gefördert und bestärkt, sie hielten aber wenig von meiner prekären Berufswahl, rieten mir stattdessen zu einem sicheren, stabilen Leben. Sie selbst gehören zu den Babyboomern, die zwischen 1954 und 1964 geboren wurden. Die Wohlstandsgeneration, wie sie auch genannt wird, erlebte die Vollbeschäftigung in Westdeutschland und einen rasant ansteigenden Lebensstandard. Stabilität und Kontinuität waren möglich, üblich sogar. Die Generation X, die zwischen 1965 bis 1975 geboren wurde, kämpfte schon heftiger mit dem Verlust traditioneller Werte: Die klassische Familienstruktur bekam Risse, Scheidungszahlen stiegen, und auch auf dem Arbeitsmarkt wurde es enger. Wenn ich Soziologen erzähle, dass ich dreißig Jahre alt bin, kleben sie mir das Label »Generation Y« auf die Stirn, schauen mitleidig und sagen, dass sich für die heute 15- bis 30-Jährigen die Lage ja noch einmal verschärft habe. 2005, ein Jahr nach meinem Abitur, lag die Arbeitslosigkeit auf dem historischen Hoch von 11,7 Prozent, die Scheidungsquote bei 52 Prozent. Kein Wunder, dass ich den Sicherheitsidealen meiner Eltern nachhing und auf einen festen Job, einen festen Freund und einen festen Wohnort hoffte.

Allein bin ich damit nicht: Nach einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung empfinden 91 Prozent der 16- bis 29-Jährigen Stabilität als positiv. 60 Prozent haben das Gefühl, mit der rasanten Veränderung ihrer Umwelt kaum Schritt halten zu können. »Die Generation Y ist von grundsätzlicher Absturzangst befallen«, sagt der Psychologe Stephan Grünewald, der in mehreren Studien untersucht hat, nach welchen Kriterien junge Menschen heute Entscheidungen treffen. Das Ergebnis: »Spätestens seit dem 11. September 2001 scheint es keine Sicherheiten mehr zu geben. Selbst verlässliche Instanzen wie der Bundespräsident und der Papst treten von ihren Ämtern zurück die Wirklichkeit ist brüchig.« Umso zwanghafter, meint Grünewald, werde die Sehnsucht nach Stabilität.

Liebe: Der Weg ist das Spiel

»In der Ausbildung hiess ich Fischkopf«
Frederik Janus (mit Katharina Witte), 27, Herxheim am Berg, Rheinland-Pfalz.


Das war der Plan: Weinhändler oder Pilot.
Da bin ich: Winzer.
Da will ich hin: Ein eigenes Weingut aufbauen.

»Weinflaschen im Keller lagern und reich werden das war meine Geschäftsidee als kleiner Junge. Mit fünfzehn besaß ich eine Sammlung von zwanzig Weinen und las Bücher über deutsche Hanglagen. Doch aus dem Hobby eine Karriere zu machen, fiel mir erst ein, als ich bei der Pilotenschule abgelehnt wurde. Ich habe dann eine Ausbildung zum Winzer gemacht. Zum Glück ist meine Freundin Katharina zum studieren nach Rheinland-Pfalz gezogen. Wir sind seit der Schulzeit in Bremen zusammen. In der Winzerausbildung nannten die anderen mich oft Fischkopf, die kamen zum Großteil aus alten Winzerfamilien. Als Quereinsteiger ohne eigenen Hof und Kapital ist es praktisch unmöglich, Winzer zu werden. Trotzdem haben wir es nach meinem Studium gewagt. 2013 pachteten wir 3,5 Hektar Rebfläche und wollen den Hof nun sukzessive übernehmen. Das Kapital von 20 000 Euro haben wir über Crowdfunding gesammelt. Leben können wir noch nicht von dem Hof. Ich arbeite nebenbei in einem anderen Betrieb, Katharina macht im Sommer ihren Master in Ernährungswissenschaften. Der Weinbau ist sehr zeitintensiv: Versalzt ein Koch die Suppe, kocht er sie am nächsten Tag noch einmal. Wir aber müssen ein Jahr auf die Lese warten. Statt am Samstag an den See zu fahren, arbeiten wir oft. Aber das ist uns unser gemeinsames Ziel wert.«

Die Zeugnisse und Zertifikate, die ich der Immobilienmaklerin vor die Nase hielt, waren also mehr als Beweise meiner Bonität. Sie belegen auch, wie viel ich bereits in meinen Traum von Kontinuität investiert habe. Aber natürlich gab es immer wieder Konflikte zwischen dem Sicherheitsbestreben und dem Wunsch, meine Chancen voll auszuschöpfen. Irgendwann bot man mir eine Stelle bei der Lokalzeitung an, kein Superjob, aber stabil. Meine Eltern fanden das toll. Ich nicht. Denn ich wollte ja eine Superjournalistin in einer Superstadt werden und einen Supermann finden. Unter Superlativ wollte ich es nicht machen. Also zog ich nach Hamburg, um dort in einem Verlag zu arbeiten. Zweifel hatte ich keine, sondern nach Jahren in der Pflichtabarbeitungsmühle endlich wieder das Gefühl, mein Leben zu führen. Am Ende hatte er sich also doch ausgezahlt, mein Fleiß. Mein Lebensplan schien aufzugehen.

Und dann wurde es schrecklich: der Chef cholerisch, die Arbeit ganz anders als in der Stellenbeschreibung. Zwei Monate nach meinem Umzug bat ich um die Auflösung des Vertrags. Zum ersten Mal hatte ich die Kontrolle über mein Leben verloren und wusste nicht weiter. Ich saß alleine in einer fremden Stadt, in einer viel zu teuren Wohnung, ohne Freunde, ohne Freund, ohne Arbeit. Dabei hatte ich mich jahrelang doch so konform verhalten, als wäre ich direkt aus einem soziologischen Lehrbuch entsprungen: Laut Studien gibt jeder zweite junge Deutsche als wichtigstes Lebensziel an, in den kommenden zehn Jahren einen gut bezahlten, stabilen Job zu finden. 65 Prozent sind der Ansicht, dass sie das vor allem mit Disziplin erreichen können was im Umkehrschluss bedeutet, dass Menschen, die diesen Traumjob oder jedes andere Ziel nicht erreichen, disziplinlos sind und: selber schuld.

Liebe: Der Weg ist das Spiel

»Ich wollte keine Glucke sein«
Maria Brems, 52, Eichstätt.


Das war der Plan: Lehrerin werden, viele Kinder bekommen.
Da bin ich: Fünffache Mutter, Politikstudentin.Da will ich hin: In Politik oder Bildung arbeiten.

»Als mein erster Sohn nach dem Abitur auszog, fühlte sich unser Haus plötzlich leer an. Da wusste ich: Ich muss etwas Neues machen. Ich war zwanzig Jahre Hausfrau und Mutter, habe es geliebt, die Kinder aufwachsen zu sehen. Doch eine Glucke wollte ich nicht werden. In meinem Heimatdorf war ich das erste Mädchen, das auf das Gymnasium gehen durfte. Ich konnte mir vorstellen, Lehrerin zu werden. Dann jedoch arbeitete ich als Hauswirtschaftsleiterin und gründete eine Familie. Wahrscheinlich schlummerte der Wunsch zu studieren schon seit dieser Zeit in mir. Als ich mich dann mit 47 Jahren erstmals traute, zu diesem Traum zu stehen, war ich sofort Feuer und Flamme. Ich studierte jedoch nicht mehr Lehramt, sondern Politik und Kommunikation. Meine Kinder bastelten mir eine Schultüte und besorgten mir einen Laptop. Natürlich hatte ich Angst, zu scheitern. Es war auch nicht leicht: Powerpoint, Prüfungen, und abends noch Stochastik lernen. Aber ich habe das durchgezogen und meine Bachelorarbeit mit 1,0 bestanden und gleich den Master begonnen. Man entwickelt eine große Kraft, wenn man sich traut, was neues zu beginnen.«

Das war der Moment, in dem mein internes Navi abstürzte und ich endlich verstand, wie das ist, wenn man vor lauter Kreuzungen den eigenen Weg nicht mehr sieht. Sollte ich zurück in die Heimat gehen und den ungeliebten Job doch annehmen? Sollte ich in eine Stadt ziehen, in der ich besser vernetzt war? Oder vielleicht sogar eine Karrierealternative anstreben? Es war eine Mitarbeiterin des Arbeitsamts, die schließlich aussprach, wie die Dinge lagen: »Machen Sie sich doch einfach selbstständig und hoffen Sie das Beste.« Das habe ich dann gemacht. Selten in meinem Leben hatte ich mich so fremdbestimmt gefühlt, selten war ich so froh darüber, dass wenigstens endlich etwas passierte. In dieser Situation habe ich verstanden, dass es im Leben zwei Arten von Phasen gibt: Entscheidungsphasen, in denen man Horizont und Herz nach lohnenden Zielen abtastet, das Für und Wider abwägt und eine Entscheidung trifft. Und es gibt Macherphasen, während derer man eine Sache durchzieht und, wie mein Vater sagen würde, »Strecke macht«.

Das Paradoxe ist, dass wir uns durch unsere hektische Sicherheitssuche die Frage »Wohin führe ich mein Leben?« zwar täglich neu stellen, auf diese Art und Weise aber jede mögliche Antwort unterdrücken. Anders gesagt: Wir erreichen unsere Ziele oft nicht, weil wir uns ständig berufen fühlen, darüber nachzudenken, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind, wieso der Weg nicht so aussieht, wie wir ihn uns ausgemalt haben und ob es nicht doch eine Abkürzung gibt. Das liegt daran, dass uns durch G8, Bologna-Reform und die Beschleunigung der Wirtschaft jene Monate und Jahre abhandengekommen sind, in denen man sich früher ausprobieren und verschiedene Möglichkeiten durch spielen konnte. Am Ende dieser Zeit stand deshalb oft eine Entscheidung, die langfristig Gültigkeit besaß.

Liebe: Der Weg ist das Spiel

»Zweifel hatte ich nie«
Charlotte Sack, 103, Hamburg.


Das war der Plan: Lehre, Ehe, Familie.
Da bin ich: Rentnerin.
Das habe ich gelernt: »Das leben kommt, wie es kommt. Aber man sollte alle Möglichkeiten nutzen, die sich einem bieten.«

»Nach der Schule war klar, dass ich Schneiderin werde. Eine meiner Schwestern hatte auch an der Fachschule in Hamburg gelernt. Ich hatte Talent und mir hat es Freude bereitet. Was sollte ich da lange überlegen? Zweifel hatte ich nie. 1938 habe ich geheiratet. Meinen Mann habe ich drei Jahre zuvor beim Tanztee kennengelernt, er hatte mich aufgefordert. Ich war dann lange Zeit Hausfrau und Mutter, habe nebenbei noch in der Schneiderei gearbeitet und manchmal als Modell die Frühjahrskollektionen auf den Modenschauen vorgestellt. Ich kam ja aus der Branche. Mir ist es noch immer wichtig, gepflegt zu sein. Gearbeitet habe ich immer von 9 bis 13 Uhr. Danach hatte ich dann noch Zeit für mich selbst. Das war mir wichtig. Als ich siebzig wurde, fragte mich eine Freundin, ob ich nicht in ihrem Lampenladen mithelfen wolle, schirme nähen, so etwas. ›Du hast doch Talent‹, sagte sie. Was stimmte, ich konnte schon immer gut mit meinen Händen arbeiten. Ich war immer ein selbstbewusster Mensch. Ein, zwei Jahre mache ich das, dachte ich mir. Aber am Ende habe ich elf Jahre in dem Laden gearbeitet. Eine schöne Zeit. Es ist wichtig, gebraucht zu werden im Leben und eine Beschäftigung zu haben. Ohne Austausch wird man schnell einsam und alt. Seit 77 Jahren wohne ich in meiner Wohnung mit Elbblick. Weg wollte ich nie.«

Wir haben dieses funktionale Abhängen aber auch nicht einfach nur durch gedankenloses Durch powern ersetzt, wie wir oft annehmen, sondern Entscheidungs- und Macherphase untrennbar miteinander vermischt. Wir wollen mit voller Kraft durchs Leben kreuzen und in jeder Sekunde die Richtung wechseln können. Stattdessen treiben wir ziellos auf dem Ozean der Optionen herum. Es ist vermutlich eine gute Idee, die Entscheidungsphasen und die Macherphasen wieder zu trennen. Erobern wir uns also die Zeiträume zurück, in denen wir unsere Möglichkeiten und deren Kosten in Ruhe sondieren (es muss ja kein Jahr sein, aber ein paar Wochen darf man sich schon mal vom Leben führen lassen).

Wenn wir uns dann für etwas entschieden haben, kommt der zweite, wichtige Schritt: In der Macherphase investieren wir Wochen, Monate, manchmal Jahre in die Umsetzung unserer eigenen Entscheidung (wenn uns die Welt lässt). Das Leben führen. Nicht dauernd grübeln. Wer einen Weg einschlägt, aber alle zwei Minuten den Kompass auspackt, um sich zu vergewissern, dass er noch richtig liegt, kommt nie an.

Die Frage ist gar nicht, ob ich schuld daran bin, dass ich mein Ziel noch nicht erreicht habe. Mir bleibt nichts übrig, als die Selbstständigkeit anzunehmen und erst mal zu machen. Das tue ich nun seit einem Jahr. Und der Treppenhausmoment zeigt, dass es mir schwerfällt. Manchmal gerate ich in Versuchung, wieder den Kompass rauszuholen, ein Jobangebot in einer anderen Stadt etwa, großer Konzern, unbefristeter Vertrag gute Idee? Ich stand eine Weile auf dem Bürobalkon, blickte auf die unfertige Elbphilharmonie und überlegte, ob ich die Macherphase wieder zugunsten einer Orientierungsphase abbrechen will. Dann bin ich zurück zum Schreibtisch und habe die Absage getippt. Ich weiß zwar nicht, wohin es geht, aber gerade führe ich mein Leben.

Dieser Text ist in der Ausgabe 07/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.

VG-Wort Pixel