Text: Michael Moorstedt | Illustrationen: The Emperor of Antarctica
Das Internet langweilt mich. Jeden Tag posten tausende Menschen ihre Urlaubsfotos auf Facebook, leiten auf Twitter Videos von süßen Katzen weiter, prahlen mit ihren neuen Jobs, laden sich gigabyteweise Serien runter, beantworten Freundschaftsanfragen von Papa oder schauen sich Pornos an. Immer und immer wieder. Ich habe die Schnauze voll. War das weltweite Netz nicht einmal wild, gefährlich, verrückt? Mittlerweile ist es so subversiv wie Disney World.
Statt Katzenbilder gibt es hier Koks, Kinderpornos und Auftragskiller
Aber es geht auch anders. Seit einiger Zeit erzählen sich die Menschen im Netz von einem geheimen Ort, einer dunklen Parallelwelt, in der die Anarchie regiert: das Darknet. Statt Katzenbilder, so heißt es, gebe es hier Koks, Kinderpornos und Auftragskiller. Das Darknet ist das Internet, vor dem uns Eltern und CSU-Politiker immer gewarnt haben, ein rechtsfreier Raum voller düsterer Gestalten. Das klingt interessant. Erst recht seit wir wissen, dass NSA und Facebook uns bei jeder Bewegung im Netz beobachten. Was ist das Darknet nun genau: ein Mythos des Medienzeitalters? Die Onlineunterwelt? Oder das letzte Reservat der Freiheit?
An einem sonnigen Spätsommermorgen setze ich mich an den Computer und beginne die Expedition. Man muss kein Hacker sein, um ins Darknet zu gelangen. Man muss auch keine geheimen Passwörter kennen, die einem spätnachts in einem Parkhaus zugeraunt wurden. Das Darknet ist eine Sammlung von Seiten, die gewissermaßen hinter dem offiziellen Web liegen und für normale Suchmaschinen nicht auffindbar sind. Benötigt wird ein spezieller Browser, den man sich beispielsweise auf der Website torproject.org herunterladen kann (genaue Anleitung hier). Die Verbindung zu Internetseiten wird nun nicht direkt, sondern immer über mindestens eine Zwischenstation aufgebaut, sodass die Identität der Nutzer verborgen bleibt. In die Browserzeile gibt man keine einfachen URLs wie amazon.de oder youtube.com ein. Stattdessen lagern die Angebote hinter komplexen alphanumerischen Codes, die kein normaler Mensch auswendig lernen kann. Zum Beispiel: 5onwnspjvuk7cwvk.onion. Wohin dieser Link führt – dazu später mehr.

Doch wie orientiert man sich dort, wo Google nicht mehr funktioniert? Einen ersten Anlaufpunkt bietet The Hidden Wiki (kpvz7ki2v5agwt35.onion), eine Seite im Darknet, die ein Verzeichnis weiterer Seiten enthält, gewissermaßen die Gelben Seiten der Illegalität. Die Seite sieht aus, als wäre sie im Jahr 1993 programmiert worden, und lädt unfassbar langsam. Die Benutzerfreundlichkeit und den Speed des 21. Jahrhunderts tauscht man im Darknet gegen Anonymität.
Aber immerhin: Fein säuberlich getrennt nach Sparten wie Politik, Business und Erotik finde ich hier ein paar hundert Seiten gelistet. Ein Klick – ein anonymer Islamisten-Spendenaufruf erscheint auf meinem Bildschirm, man sammle Geld für den Dschihad, heißt es. Ein Klick – ich lande auf der Seite der Army of God, militanter Abtreibungsgegner, die in den USA mehrere Anschläge verübt haben. Und natürlich dauert es auch nicht lange, bis man auf die ersten kinderpornografischen Angebote stößt. Wer seinen Glauben an das Gute im Menschen nicht eh schon verloren hat, hält großen Abstand zu Seiten mit Namen wie »Kids have fun«, »Hard Candy« oder »Paradise Village«.
Es ist wie ein Besuch im üblen Viertel einer ansonsten vertrauten Stadt
Das Darknet erzählt auch eine Geschichte über seine User. Was passiert, wenn Menschen sich hinter der Digitaltarnkappe sicher wähnen? Ein Ausflug ins Darknet fühlt sich an wie ein Besuch in einem ziemlich üblen Viertel einer eigentlich vertrauten Stadt. So wie die geführten Touren durch brasilianische Favelas. Bei den Aryan Nations geht es hauptsächlich darum, wie das eigene Blut rein zu halten sei, außerdem finden sich im Darknet natürlich auch kostenlose Bastelanleitungen für allerlei Sprengstoffe. Meist verbunden mit der Bitte, diese nur »zur Selbstverteidigung« zu nutzen. Versprochen.
Man kann sich in der Unterwelt nicht aussuchen, mit wem man dort wohnt. Neben den Kinderschändern und Rechtsradikalen halten sich im Darknet die Anarchisten und selbst ernannten Cyberpunks auf, die an ihrer neuen Weltordnung tüfteln. Und chinesische und iranische Dissidenten, die nur hier sicher sind. Die Tor- Community schreibt sich aufs Revers, dass ihre Software eine maßgebliche Rolle bei der Kommunikation der Dissidenten während des arabischen Frühlings gespielt habe. Das Magazin »New Yorker« unterhält eine Dependance im Darknet: Die sogenannte Strongbox ist ein toter Briefkasten für Whistleblower wie Chelsea Manning oder Edward Snowden. Hier können sie anonym ihre Hinweise hochladen.
Ich gestehe, dass mein momentanes Interesse am Darknet nicht direkt politischer Natur ist. Die erwähnte Adresse 5onwnspjvuk7cwvk.onion führt auf den Drogenhandelsplatz »Black Market Reloaded«. Fein säuberlich sortiert in verschiedene Kategorien – Gras, Heroin, MDMA und noch ein halbes Dutzend andere bewusstseinserweiternde Substanzen, von denen ich noch nie gehört habe. Ein Amazon für Drogen. Ein paar tausend Anbieter preisen hier ihr Dope an. »Die Dealer weichen auf das Darknet aus, weil es erstens ihren Markt vergrößert und zweitens Gewalt verringert«, sagt die australische Journalistin Eileen Ormsby, die seit Jahren auf den Drogenmärkten recherchiert und mit ihrem Blog allthingsvice.com eine Art Frontberichterstatterin im Darknet ist. Und dank der Bewertungsfunktion verringert sich auch die Gefahr für die Nutzer.
Klar, wer einmal vom Internet-LSD auf einen schlechten Trip kommt, vergibt dafür keine fünf Sterne.
Wer einmal auf einen schlechten Trip kommt, vergibt keine fünf Sterne
Drogen im Netz kaufen und sie per Post nach Hause geschickt zu bekommen – das klingt wie ein Paradies für gestresste Studenten, die auf der Suche nach ein bisschen Ritalin für die Prüfungszeit sind, aber nicht die richtigen Verbindungen haben. Für den koksenden Werber, der zu feige ist, sich den Stoff am Bahnhof zu besorgen. Für den zum Familienvater gewandelten Hobbypsychedeliker, der trotz der Kinder auf den Kick einmal im Monat nicht verzichten will. Und für Typen wie mich. Das letzte Mal, als ich mir was zu rauchen besorgt habe, saß ich in einer verranzten Kifferbude, in der Ecke stand eine noch schmutzigere Bong, und damit nicht auffiel, dass ich nur wegen des Grases gekommen war, musste ich artig paranoiden Geschichten meines Dealers lauschen, bevor ich endlich an das Zeug kam. Das ist – zugegebenermaßen – schon knapp zehn Jahre her und entspricht nicht mehr ganz meinem Lebensstil. Eine Lieferung frei Haus passt da schon besser.
Kein Wunder, dass Online-Schwarzmärkte boomen. Schon 2012 schätzte der IT-Sicherheitsexperte Nicolas Christin von der Carnegie Mellon University den jährlichen Umsatz allein auf der Silk Road auf mehr als fünfzehn Millionen Dollar. Die Silk Road ist eine der bekanntesten Drogen-Amazons. In den folgenden Monaten könnte sich der Umsatz noch einmal verdreifacht haben, so Christin. Der Betreiber des »Black Market Reloaded«, eine Person mit dem Namen Backopy, gibt an, dass sich im März 2013 beinahe 20 000 neue User auf seinem Marktplatz angemeldet hätten. Im April sei das Handelsvolumen auf knapp 700 000 Dollar im Monat gestiegen.
Wer sind diese Menschen, die hinter den Marktplätzen stehen? Geht es ihnen nur ums Geld? Sie wollen zumindest den Anschein erwecken, dass sie einer Philosophie folgen. »Ich kämpfe gegen die Prohibition «, sagt ein digitaler Drogenhändler, der sich Heisenberg 2.0 nennt, eine Anspielung auf das Meth- Melodram »Breaking Bad« – ihre popkulturellen Referenzen haben die Onlinedealer auf der Reihe. Heisenberg 2.0 war in den vergangenen Monaten Administrator eines Schwarzmarkts namens Atlantis, der sogar ein Werbevideo auf Youtube laden ließ und Profile auf allen sozialen Netzwerken unterhielt. Der Dealer von heute vertraut nicht auf Mund-zu-Mund-Propaganda, sondern arbeitet mit Twitter. Es sei momentan alles sehr hektisch, schreibt er oder sie, »aber ich weiß jetzt, was die Menschen meinen, wenn sie sagen, sie haben ihre Berufung gefunden. Im Krieg gegen die Drogen an vorderster Front zu stehen, hat mich gereizt.« Wobei Heisenberg genauer gesagt ja im Krieg FÜR die Drogen an vorderster Front steht.
Nur von Idealismus lässt es sich aber auch nicht leben. Deshalb behalten die Drogenbarone des Darknets von jeder Transaktion einen gewissen Prozentsatz für sich – das gleiche Geschäftsmodell wie bei E-Bay.

Als ich ihr am nächsten Morgen von meinen fabelhaften Entdeckungen im Darknet erzähle, wundert sich meine Freundin zuerst gehörig und wird dann ziemlich schnell ziemlich wütend. Sie hat Angst, dass Viren und Trojaner von meinem Rechner auf ihre kostbaren Schreib- und Kommunikationsgeräte überspringen könnten. Dass sich das Darknet in der echten Welt manifestiert. Für den Rest meiner Expedition werde ich aus der Wohnung verbannt. Ich weiche auf ein Internetcafé in der Nähe des Hauptbahnhofs aus und fühle mich konspirativer denn je. Die Ansprache der Freundin hat Wirkung gezeigt. Blickt mir hier jemand über die Schulter auf den Bildschirm? Was kramt der Besitzer des Cafés da eigentlich unter seinem Schreibtisch herum? Was nuschelt dieser Typ da hinten in sein Handy? Auf einmal wirkt alles und jeder verdächtig.
Trotz aller Anonymisierung ist Verfolgungsangst im Darknet nicht erst seit den Prism-Enthüllungen weitverbreitet.
Die Etikette ist allerdings durchgängig besser als etwa im Spiegel-online-Forum: »Wenn Du Dich höflich und zuvorkommend verhältst, dann ist das gutes Karma. Und ich reagiere auf gutes Karma«, schreibt mir der Dealer mit dem Pseudonym CaliforniaCannibas auf meine Frage, warum ich ihm trauen sollte. Mit allem Mut (oder Leichtsinn), den ich zusammenkratzen kann, wage ich einen Testkauf. Fünf Gramm Gras für fünfzig Euro, nicht gerade billig, aber immerhin erspare ich mir so den Weg zu übel beleumundeten Drogenumschlagplätzen, die ich sowieso nicht mehr kenne. Ein Klick, und die Bestellung ist abgeschickt, jetzt gibt es kein Zurück. In der folgenden Nacht schlafe ich schlecht. Vom Küchenfenster im zweiten Stock observiere ich von nun an jeden Morgen den Briefträger. Bringt er statt der Zeitung die Bullen mit? Doch am Morgen des dritten Tages steht nicht die Polizei vor der Tür, es liegt nur ein kleines Päckchen im Briefkasten, darauf, in krakeliger Kinderschrift, mein Name. Post aus dem Darknet. Das Marihuana ist in ein bisschen Luftpolsterfolie eingewickelt, und sowohl über den Geruch als auch über die Wirkung kann ich sagen: ziemlich stark.
Ich observiere den Briefträger. Bringt er jetzt die Bullen mit?
Am nächsten Tag klinke ich mich wieder ein, ich komme mir vor, als hätte ich plötzlich eine geheime Superkraft an mir entdeckt. Auf einmal scheint alles möglich. Die Produktpalette des Darknets gibt ja noch viel mehr her. Okay, das M16-Sturmgewehr wird leider nur innerhalb der USA verschickt. Aber sonst? Ein halbes Kilo Gras kaufen? Koks und Speed? Rezeptpflichtige Medikamente in allen Farben und Formen? Gefälschte Ausweise, Markenklamotten, Führerscheine, raubkopierte Software, illegales Elfenbein … oder geklaute Kreditkartennummern? All das kann mit ein paar Klicks mir gehören, ohne jede Gefahr, dass mir dabei jemand auf die Schliche kommt – oder?
Das Bayerische Landeskriminalamt (BLKA) residiert an einer Ausfallstraße im Münchner Westen. Es ist ein Ort, den man auf den ersten Blick nicht mit großer Internetkompetenz in Verbindung bringt. Und doch war es das BLKA, dem im Sommer 2013 ein erster großer Schlag gegen die Dealer aus dem Netz gelang. Anscheinend kann man sich eben doch nicht vollständig im Darknet verstecken. Stattdessen schlug die Polizei in Deggendorf, Berlin und Brandenburg zu, beschlagnahmte siebzehn Kilogramm Amphetamine und knapp 100 000 Euro. Fünf Digitaldealer wurden festgenommen.
Das Darknet funktioniert wie ein Gummiband. Und jetzt federt es zurück
Ludwig Waldinger ist BLKA-Sprecher, und in seiner Stimme schwillt deutlich hörbar Stolz, wenn er in breitem bayerischen Dialekt vom Erfolg im Darknet erzählt. Monatelang habe die »SoKo Seidenstraße« gearbeitet. Wie genau sie auf die Spuren der Dealer gekommen ist, will Waldinger nicht sagen, das BLKA möchte sich »das kleine bisschen Zugang«, das es zum Darknet hat, nicht kaputtmachen. Aber, sagt er mit warnender Stimme, »der Drogenhandel wird niemals ganz im Internet ablaufen«. Schließlich müssten die Drogen ja irgendwann in der echten Welt verschickt werden.
Im Oktober 2013 verhaftete das FBI dann den mutmaßlichen Betreiber der Plattform Silk Road. Seitdem sitzt der 29-Jährige, der ein bisschen wie Robert Pattinson aussieht, im Gefängnis. Ab hier wird es absurd, die Geschichte gleicht weniger einer sanften Antiprohibitionsfabel, sondern einem Mafiafilm. Ein paar Millionen Dollar soll der Onlinedealer gescheffelt haben. Und den Mord an einem Konkurrenten in Auftrag gegeben haben.
Ist das jetzt der Anfang vom Ende vom Darknet? Es ist wohl eher so, dass sich einmal mehr die alte Weisheit bewahrheitet, dass Dinge, die einmal online waren, so schnell nicht wieder verschwinden oder sich unterdrücken lassen. Dabei ist es egal, ob es sich um peinliche Nacktfotos handelt oder um Drogen und Elfenbein. Oder nur um die Idee eines Handelsplatzes. Das Darknet funktioniert wie ein Gummiband, das nach dem FBIEinsatz nun zurückfedert: Die australische Autorin und Darknetexpertin Eileen Ormsby glaubt, dass innerhalb weniger Wochen eine neue Silk Road ihre Türen öffnen wird. Und Heisenberg 2.0 schreibt auf seinem Blog, das FBI habe mit dem Abschalten der Silk Road »ein Monster geweckt«. Die ersten Nachahmer sind tatsächlich schon online. Das Darknet, sagt Heisenberg 2.0, werde nicht aufhören zu existieren. Sondern nur auf eine noch dunklere Ebene wandern.
Ihr wollt euch selbst ein Bild vom Darknet machen? NEON-Autor Michael Moorstedt erklärt hier den Weg ins Netz der Finsternis.
Dieser Text ist in der Ausgabe 12/13 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.